Mittelalterliche Zinnabzeichen
Wissenswertes über religiöse Pilgerzeichen und obszön-erotische Tragezeichen im Mittelalter
Im 14. und 15. Jahrhundert, also dem späten Mittelalter, war es in ganz
Nordeuropa weithin üblich, dass die Menschen kleine Zinnabzeichen an ihrer Kleidung oder Kopfbedeckung trugen – sogenannte Tragezeichen oder Pilgerzeichen.
Diese als wenige Zentimeter großen Flachreliefs ausgeführten Zinnabzeichen waren mit Anstecknadeln oder Ösen zum Annähen versehen, so dass man sie beliebig an der Kleidung befestigen konnte.
Der überwiegende Teil mittelalterlicher Zinnabzeichen stammt aus Ausgrabungen aus den
Niederlanden und Belgien, wobei die ältesten Funde in der Mitte des 19. Jahrhunderts an den Ufern der Seine in Paris gemacht wurden.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gesellten sich viele weitere Funde hinzu, unter anderem durch eine größere Anzahl mittelalterlicher Pilgerzeichen und profaner Tragezeichen aus der
Londoner Themse und der Weser bei Bremen.
Es gibt eine große Menge sehr gut erhaltener Exemplare, daneben aber auch viele nur fragmentiert erhaltene Zinnabzeichen aus dem Mittelalter, die uns heute ein sehr gutes Bild von deren beeindruckend großen
Formenvielfalt geben.
Neben Pilgerabzeichen mit religiösen Bezügen, die bei Wallfahrten zu heiligen Stätten, Klöstern und ähnlichem vor Ort erstanden wurden, und die zumeist einen Heiligen, eine Reliquie oder ein anderes christliches Thema zum Inhalt hatten, sind im Mittelalter auch eine große Zahl an profanen Zinnabzeichen oder
obszön-erotischen Tragezeichen im Umlauf gewesen, die Themen der Liebe oder Sexualität auf mehr oder weniger drastische Weise thematisierten.
Die mittelalterlichen Tragezeichen, einerlei ob
religiös-erbaulicher, profaner oder sexuell-frivoler Natur, waren in der Regel aus Blei oder Zinn oder einer Legierung aus beidem gefertigt, es gab aber ebenso auch Pilgerzeichen aus Kupferlegierungen wie Messing oder Bronze.
Die Größe von Zinnabzeichen aus dem Mittelalter lag zumeist bei um die 5 cm, sie konnten aber auch deutlich kleiner sein und auch Größen bis zu 10 cm erreichen.
Mittelalterliche Zinnabzeichen mit profanen oder erotischen Motiven
Auf den profanen Zinnabzeichen des Mittelalters findet sich ein breites Spektrum an Motiven des
alltäglichen Lebens, die von einer einfachen Darstellung einer Zinnkanne oder einer Katze mit Maus bis hin zur szenischen Darstellung von Kanonenschüssen auf einen Turm reichen konnte. Oft finden sich bei diesen profanen Tragezeichen auch erklärende Beischriften in Form von Spruchbändern.
Die überwiegende Anzahl der obszön-erotischen Tragezeichen des Mittelalters wurden im Südwesten der Niederlande gefunden. Eine ganze Anzahl kam dabei aus
im Meer versunkenen Dörfern zum Vorschein. Mittelalterliche Zinnabzeichen derselben Art sind auch aus anderen Regionen Europas erhalten,
insbesondere Frank¬reich, England, Deutschland, Norwegen, doch dort in deutlich geringerer Zahl. So sind bislang alleine von den Modellen aus den Niederlanden bisher
2200 Funde beschrieben und katalogisiert.
Die Rolle der religiösen Pilgerzeichen im Mittelalter ist klar. Sie wurden ganz wie heute als Andenken oder Nachweis für eine Reise zu einem religiösen Ort oder als persönlicher Bezug zu einem Heiligen getragen. Doch lange rätselte man darüber, wie die weltlichen, meist erotischen Erzählungen der
profanen Zinnabzeichen zu verstehen und zu werten sind und für welches Publikum sie gedacht waren. In welchem Kontext standen sie zur mittelalterlichen Kultur?
Neben mittelalterlichen Tragezeichen mit der Aufschrift AMOURS, die ganz offensichtlich als
Liebesgabe dienten, findet sich auf den obszön-erotischen Zinnabzeichen des Mittelalters als zentrales Motiv vorwiegend mehr oder minder drastische erotische Darstellungen von Genitalien in allen erdenklichen Variationen. Dazu gesellen sich die sog. Ausnahmemenschen, wie etwa Narrenfiguren und Tiere mit einer gewissen Nähe zur Sexualität.
Drastische Darstellungen auf mittelalterlichen Zinnabzeichen
So finden sich auf den obszön-erotischen Tragezeichen des Mittelalters neben kopulierende Paaren insbesondere Abbildungen eines
Phallus oder einer
Vulva in Übergröße oder rundum auf dem Abzeichen verteilt bzw. Phallus und Vulva in Gemeinschaft, oft in einer humoristischen Weise dargestellt.
Die erotische Darstellung auf mittelalterlichen Zinnabzeichen bedient sich oft der Übertreibung, mit einem
Hang zu Groteske, was besonders oft in einem übergroß dargestellten Penis oder einem Penis in Verbindung mit einem Tier, dem sog. Phallustier oder dem geflügelten Phallustier zum Ausdruck kommt.
Das Phallustier wird auf diesen Zinnabzeichen oft als ein laufendes zweibeiniges Wesen in Form eines übergroßen Penis dargestellt, oft mit einer
Glocke oder Schelle um den Schaft, manchmal mit Flügeln versehen, manchmal mit einer Pluderhose oder einer Art Pullover bekleidet.
Bereits in der Antike hat es erotische Miniaturen und phallische Darstellungen auf Anhängern gegeben. Zu nennen wäre hier das sog. Fascinum, das in der Antike als
Glücksbringer verbreitet war und in Form eines Phallus in unterschiedlichster Form um den Hals oder an Gegenständen befestigt wurde. Auch gab es bereits in der Antike kleine Bronzedarstellungen eines männlichen Glieds mit Flügeln.
Neben der häufig thematisierten, darstellerischen Verbindung des Glieds mit einem Tier gab es im Mittelalter auch obszön-erotischen Tragezeichen, die einen Penis in Verbindung mit Pflanzen oder
Gegenständen zeigten, so das
Phallusschiff oder der Phallusbaum, an denen sich gleich mehrere Penisse befanden.
Weitere Darstellungen auf mittelalterlichen Zinnabzeichen zeigen mehrere Phalli in Verbindung mit einer Vulva, wie etwa eine mit drei Phalli gekrönte Vulva oder eine von
Phalluswesen getragenen Vulva in einer Art Sänfte.
Auch die Darstellungen einer übergroßen Vulva mit einem Bogen auf einem Pferd reitend oder in Form einer Pilgerin mit Pilgerhut, Rosenkranz und Phallus-Pilgerstab ist bekannt. Andere obszön-erotischen Tragezeichen des Mittelalters zeigen Darstellungen
kopulierender Paare oder mit Sexualität in Verbindung stehende Tiere, wie der Hahn, der die Henne tritt oder versinnbildlicht ein Affe mit Mörser und Stößel.
Ebenso mythologische Figuren der
Märchen- und Sagenwelt, wie der wilde Mann, die Nixe, der Wassermann und der Teufel wurden auf den weltlichen Zinnabzeichen des Mittelalters thematisiert.
Viele der auf den mittelalterlichen Tragezeichen dargestellte Objekte haben auch nur eine verdeckte
sexuelle Botschaft, die dem heutigen Betrachter nicht sofort deutlich wird, dem Menschen im Mittelalter aber durchaus geläufig gewesen sein dürfte.
Ein bekanntes mittelalterliches Zinnabzeichen zeigt etwa einen Mann auf einem Pferd, der einen Sack trägt und die Stufen zu einer Mühle hinauf reitet.
Die Mühle steht hier als Symbol für die Vulva, der Mann mit dem Sack als das maskuline Genital, der Akt an sich ist durch das Reiten definiert und das Erklimmen der Treppe symbolisiert den Weg zum Höhepunkt. Ähnliche versteckte sexuelle Botschaften finden sich in vielen Pilgerabzeichen.
Über die Bedeutung der obszön-erotischen Zinnabzeichen im Mittelalter
Wo und bei welchen Gelegenheiten wurden diese mehr oder weniger versteckt oder drastisch sexualisierten Zinnabzeichen im Mittelalter nun aber getragen? An
Interpretationen fehlt es nicht.
Sicherlich wurden die obszön-erotischen Tragezeichen nicht beim Kirchgang und vermutlich auch nicht bei anderen öffentlichen Verrichtungen im Alltag verwendet.
Wurden diese Zinnabzeichen möglicherweise an Stellen getragen, wo sie dem Blick verborgen waren, oder dienten sie als heilkräftige Stimulation der Sexualität. Oder waren die erotischen Tragezeichen eher zum heimlichen Gebrauch gedacht, als eine Art
Pornografie, die nur der Erbauung im Verborgenen diente?
Am ehesten dienten die weltlichen Pilgerabzeichen wohl der
Erheiterung bei entsprechenden Gelegenheiten wie Fastnacht und Jahrmarkt, möglicherweise auch als Gastgeschenk bei Hochzeiten.
Es gibt
fünf verschiedene Theorien über die Funktion der profanen Tragezeichen des Mittelalters.
1. Einige Zinnabzeichen mögen Erkennungszeichen familiärer oder
politischer Gruppierungen gewesen sein, da sie bestimmte, eindeutige Embleme oder Devisen darstellen.
2. Obszön-erotischen Tragezeichen könnten insbesondere im Kontext von
Fastnachtsbräuchen stehen, da hier oft Obszönitäten auf humoristische Weise thematisiert wurden.
3. Auch im Kontext der Fastnacht möglich wäre die Verwendung der obszön-erotischen Tragezeichen als
Spottpreis in Verbindung mit derben Spottritualen.
4. Manchen sexualisierten Zinnabzeichen könnte auch eine
Fruchtbarkeit fördernde oder Glück bringende Funktion innegewohnt haben oder eine Unheil abwehrende Bedeutung.
5. Zinnabzeichen mit dem Schriftzug AMOURS dürften als
Liebesgaben gedeutet werden, ähnlich jene Motive, die auf die Treue verweisend, wie etwa ein Hündchen. Auch eine, die erotische Anbahnung zwischen den Geschlechtern fördernde Verwendung wäre denkbar.
Vergleicht man die Motive mittelalterlicher Zinnabzeichen mit anderen Darstellungen von Sexualität und Obszönität im Mittelalter auf Bildquellen oder in der Literatur, scheint es recht wahrscheinlich, dass die obszön-erotischen Tragezeichen oft als eine Art
scherzhafte Liebesgaben gedient haben könnten. Sie sollten quasi kommunikationsstiftend wirken sollten, was im Rahmen der beschwingten und von Regeln befreiten Fastnachtszeit sicher häufig von Erfolg gekrönt gewesen sein dürfte.
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